Frankreich

33. Etappe: Pierry – Baye

Gelaufen: 31,4 km (Gesamt: 665,9 km)

Ein neuer Tag, ein neues Elend. Theoretisch hätte meine letzte Unterkunft WLAN gehabt, allerdings wurde mir das Passwort erst am Morgen zugeschickt, sodass ich es nicht mehr zufriedenstellend nutzen konnte. Meine Blogeinträge sind schon wieder liegen geblieben und auch meine täglichen Organisationsaufgaben musste ich am Morgen abarbeiten. Mails lesen, die nächsten Unterkünfte anschreiben, extrem spontane Absagen bekommen… und das alles, obwohl ich an dem Tag eine längere Etappe vor mir hatte und früh los wollte. Meine Stimmung war von Anfang an im Keller.

Schon wieder viel zu spät machte ich mich auf den Weg und steuerte zunächst die Bäckerei an, die ich am Vorabend entdeckt hatte. Schließlich mit frischen Croissants und etwas Süßem versorgt, packte ich auf einer Bank vor dem Laden meinen Rucksack zusammen, als ich plötzlich angesprochen wurde. Eine offensichtliche Pilgerin mittleren Alters hatte mich auf niederländisch gleich nach meinem Jakobsweg gefragt und vorgeschlagen, ob wir nicht zusammen einen Kaffee trinken wollten, da sie anscheinend selbst auf der Jagd nach Frühstück war. Auch wenn ich kein Niederländisch spreche, ergab sich vieles aus dem Kontext, doch antworten konnte ich natürlich nur auf Englisch und erklärte ihr, dass ich schon spät dran war und weiter wollte. Etwas überrascht gestand die Pilgerin, dass sie mich aufgrund meines orangen Hutes für eine Niederländerin gehalten hatte und wünschte mir schließlich einen Buen Camino.

Noch beim Verlassen von Pierry kommt man in den “Genuss” einer lokalen Sehenswürdigkeit: Ein riesiges Weinfass an einem Verkehrskreisel. Spektakulär.

So startete ich endlich in meine heutige Tagesetappe, aber selbstverständlich nicht ohne dass das Halteband von meiner Trinkflasche gerissen ist. Wenn schon etwas schief lief, dann bitte auch alles auf einmal. Also bemühte ich rasch meinen inneren MacGyver, um eine schnelle und praktische Lösung für mein Trinkflasche-Problem zu finden und begab mich endlich, endlich auf den Weg. Der Tag sollte schließlich noch lang werden. Die ersten paar Kilometer führten mich über einige Weinberge, auf denen eine süße kleine Kirche thronte, und durch angenehm frische Waldstücke. Dabei dachte ich etwas darüber nach, wie ironisch es doch war, dass ich schon so oft gefragt wurde, ob ich als Frau nicht Angst hatte, alleine den Jakobsweg zu laufen – und dann traf ich auf dem Weg (bis auf das niederländische Paar) ausschließlich allein-pilgernde Frauen.

Das kleine Kirchlein auf den Weinbergen war schon recht hübsch.
Der konstante Wechsel von Wald und Sonne tat sehr gut.

Eine Baustelle auf dem Weg zog meine Aufmerksamkeit aus meinen Gedanken wieder ins Hier und Jetzt. Die Baustelle war nicht zu knapp und ermöglichte selbst Fußgängern kein Durchkommen mehr. Doch anscheinend sah ich verloren genug aus, denn ein Baustellen-Arbeiter sprach mich beim Vorbeifahren aus seinem LKW an, ob ich Jakobspilgerin sei und beschrieb mir einen kleinen Umweg, wie ich einige hundert Meter weiter wieder auf den richtigen Weg mit Markierungen kommen könnte.

Direkt neben der Baustelle entdeckte ich zwischen den Bäumen eine hübsche Statue, die mich etwas verzaubert hat.

Ich bedankte mich und zog weiter. Doch auf den Weinbergen, die sich vor mir erstreckten, holte mich schnell wieder der nächste Schrecken ein. Ich war es zwar schon gewohnt, dass man in Weinbergen immer wieder die weißen Sprinter der Feldarbeiter sah und nicht selten hatten sie freilaufende Hunde dabei, die auch mal laut sein konnten. Doch diesmal waren es gleich drei große Hunde, die auch noch knurrend und bellend in vollem Galopp auf mich zusprinteten und weit und breit war keine Menschenseele zu sehen. Natürlich versuchte ich wie immer in solchen Situationen erstmal stehen zu bleiben, den Blick zu senken und den Hunden keinen Anlass zu Aggression zu geben. Aber als die Hunde selbst nach mehreren Schritten langsamem Zurückweichen nur noch wenige Meter von mir entfernt waren und immer noch keine Anstalten machten, ihre Geschwindigkeit rauszunehmen, handelte ich relativ impulsiv und brüllte den Hunden ein lautes “Hey!” entgegen. Und tatsächlich blieben die Hunde sofort stehen. Sie knurrten und bellten zwar noch eine Weile, aber schließlich ließen sie doch von mir ab und tappten langsam zum Sprinter zurück – selbstverständlich ohne mich auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen. Und erst jetzt spürte ich, wie ich anscheinend unbewusst alle Muskeln angespannt hatte und wie viel Adrenalin durch meine Blutbahn pumpte. Jetzt war ich definitiv wach.

Zum Glück haben die zotteligen Biester wieder das Interesse an mir verloren. Besonders toll hat sich dieser Wegabschnitt trotzdem nicht angefühlt.
Aber ohne aufgewühltes Hunderudel war der Ausblick über die Champagne durchaus nett.

Langsam schritt ich über den Weinberg, auch meinerseits ohne die Hunde aus den Augen zu lassen und war schließlich heilfroh, als ich diese gruselige Situation endlich weit hinter mir gelassen hatte. Doch der nächste Adrenalin-Schub ließ nicht lange auf sich warten. Als ich nach dem Weinberg wieder in einen Waldabschnitt kam, genoss ich die frische Luft und den hübschen Anblick und wollte auch gleich ein Foto von der Schönheit machen, als schon wieder etwas in voller Geschwindigkeit auf mich zuschoss. Diesmal zum Glück kleiner als die Hunde und nur zwei anstelle von drei, aber dennoch war ich wieder in Alarm-Bereitschaft. Erst als die zwei Tiere nicht mehr weit von mir entfernt waren, erkannte ich, dass es zwei Marder waren. Und auch die Marder wirkten eher überrascht, als sie mich erst so spät entdeckten, und bogen nur wenige Meter vor meiner Nase in einer scharfen Kurve vom Weg ins Unterholz ab. Einige Sekunden konnte ich noch das Rascheln und Quieken hören, dann war der Spuk auch schon vorbei. Und trotz anfänglichem Adrenalin musste ich lachen. Das waren genau die Situation, die man fast nur erleben konnte, wenn man alleine in der Natur unterwegs war. Diese Momente machten jeden Jakobsweg einzigartig.

Dieses Foto entstand nur wenige Sekunden bevor zwei marderförmige Wusel genau dort auf den Weg gehüpft und mich aus dem Konzept gebracht haben.

Die nächsten Kilometer verliefen endlich sehr viel ruhiger und weniger ereignisreich. Weinberge und Wald wechselten sich ständig ab und mit ihnen auch Flora und Fauna. Während mich auf den Weinbergen viele Mauerechsen und einige bunte Insekten wie blauschwarze Holzbienen begleiteten, bekam ich im Wald mit seinen vielen Pfützen bunte Frösche und lustige Molch-Larven zu Gesicht. Lediglich ein gewisser Waldabschnitt gestaltete sich abenteuerlicher, da der (ansonsten gut markierte) Weg vollkommen überwuchert und zugewachsen war. Und wieder war ich sehr glücklich über meine Wanderstöcke. Ich würde mir nicht vorstellen wollen, wie man ohne Stöcke gegen Brombeeren und Brennnesseln ankommen sollte. Nach dieser kleinen Dschungel-Expedition erwartete mich eine quasi ausgestorbene Straße, auf der ich trotzdem fast über den Haufen gefahren wurde (offensichtlich haben viele Franzosen ihren Führerschein von der Rückseite einer Cornflakes-Packung ausgeschnitten), ehe ich nach einem weiteren Abzweig an einen angenehm ruhigen See kam.

Auf dem Weg durch Wald und Wiesen gab es stets viel zu sehen, wie zum Beispiel dieser lustige Pilz.
Laut Wegmarkierung sollte der Jakobsweg rechts weitergehen…
…und das tat er auch. Ist doch klasse zu erkennen. Ab durch die Hecke!

Anscheinend war ich nicht die einzige, die das Seeufer als sehr einladend empfand, denn die niederländische Pilgerin von heute morgen hatte sich bereits auf einem bunten Tuch unter einem Baum breit gemacht. Wir hatten uns im Laufe des Tages immer wieder gegenseitig überholt, wenn mal die eine, mal die andere eine kurze Pause eingelegt hatte. Aber diesmal gesellte ich mich dazu und so kamen wir dazu, uns etwas ausführlicher zu unterhalten. Die Pilgerin hieß Carla und kam aus Utrecht und war in ihrem Leben schon viele Jakobswege gelaufen. Sie lief zwar nicht wie ich die gesamte Strecke am Stück, aber sie arbeitete sich Abschnitt für Abschnitt von Spanien bis zu ihrer Haustür. Ihr Ziel diesmal war die Strecke von Reims nach Vézelay, die weitere Strecke ab Vézelay kannte sie bereits. Daher konnte sie mir auch Hoffnung machen, dass sich die katastrophale Situation bezüglich der Pilgerunterkünfte ab Vézelay drastisch bessern würde. Endlich ein Lichtblick.

Ein schöner See mitten im Wald lud zum Verweilen ein.

Nachdem ich wieder etwas Energie getankt hatte, machte ich mich weiter auf den Weg. Früher oder später würde mich Carla sowieso wieder einholen. Die weitere Strecke verflog relativ schnell, vorbei an Feldern und Wald, vorbei an Blumenwiesen und süßen Häusern, erreichte ich schließlich die kleine Ortschaft Montmort-Lucy. Der Ort enthielt vor allem ein riesiges und beeindruckendes Schloss, das – wie ich später erfahren hatte – in privatem Besitz war und somit unzugänglich für die Öffentlichkeit, und einige Lebensmittelläden, die meine letzte Versorgungsmöglichkeit für die nächsten zwei Tage sein sollten. Einziger Haken dabei: Sämtliche Läden hatten geschlossen und es waren auch keine Öffnungszeiten ausgehängt, ob und wann sie heute wieder öffnen würden. Erneut etwas frustriert schlenderte ich durch das Dorf, in der Hoffnung, etwas Essbares zu finden, bis ich mich schließlich vor dem geschlossenen Rathaus zu einer kleinen Pause niederließ. Schnell stieß auch wieder Carla hinzu, für die dieses Dorf heute Endstation war. Ich hatte noch zehn Kilometer vor mir. Aber die Niederländerin machte mir schon wieder Hoffnung, indem sie meinte, dass es nicht unüblich sei, dass viele Läden um vier Uhr Nachmittags wieder öffneten – also nicht allzu lange hin.

Auf den Wiesen und Feldern blühte zur Zeit alles wie verrückt.
Das Schloss von Montmort-Lucy hätte ich mir gerne angeschaut, aber der Besitzer war offensichtlich dagegen.
Selbst die kleinen Nebengassen von Montmort-Lucy waren irgendwie niedlich.

So warteten wir gemeinsam, teilten uns Carlas letzte Vorräte und wie prophezeit, machte um Punkt vier wieder der örtliche Bäcker auf. Wir bepackten uns beide mit Vorräten und während sich Carla in ihre Unterkunft verabschiedete, nahm ich meine letzten zehn Kilometer in Angriff. Und diese Kilometer hatten es wirklich in sich. Während es bisher gute landschaftliche Abwechslung gab, lagen nun ausschließlich Getreidefelder und gleißende Sonne vor mir. Um meine letzten Kräfte zu mobilisieren, packte ich mal wieder meine Kopfhörer aus und tauchte in die Welt der Musik ein, während meine Beine auf Autopilot liefen. Die einzige kleine Abwechslung in den vielen Feldern ergab sich auf halber Strecke, als ich einen unscheinbaren Bauernhof passierte. Er wirkte verlassen und heruntergekommen, doch als ich näher an den Zaun trat, machen sich zwei bellende Rottweiler bemerkbar. Scheiben waren eingeschlagen, Löcher in den Dächern, aber dennoch wirkte der Hof auf groteske Weise bewohnt. Und dann war da noch dieses Geräusch von Hühner. Aber kein gewöhnliches Gackern aus einem Hühnerstall, sondern panisches Schreien aus Dutzend Kehlen, als litten die Hühner Todesängste. Irgendwas an diesem Bauernhof faszinierte mich und jagte mir gleichzeitig einen eiskalten Schauer über den Rücken. Dies war ein Ort wie geradewegs aus einem Horrorfilm.

Ein scheinbar endloser schnurgerader Feldweg in praller Sonne, der einen direkt zum Bauernhof des Grauens führt.

Es dauerte eine Weile, bis ich mich von dieser Szene losreißen konnte, und marschierte schließlich stramm und in zügigem Tempo meinem Tagesziel entgegen. Ich zügelte mich nur das ein oder andere Mal, um ein paar Federn für meinen Hut oder ein paar Erbsenschoten einzusammeln und kam endlich am frühen Abend in Baye an. Die Herbergsmutti erinnerte mich sofort an Molly Weasley aus der Harry-Potter-Reihe, denn sie hieß mich herzlich Willkommen und bot mir gleich Essen und Trinken an. Ebenso äußerte sie, dass sie sich bereits Sorgen gemacht hatte, weil ich so lange gebraucht habe, und meinte, ich könnte sie jederzeit rufen, wann immer ich irgendetwas brauchte. Nach diesem langen, chaotischen Tag hatte ich wenigstens eine unglaublich warme Unterkunft erreicht, in der ich mich richtig wohl und gut aufgehoben fühlte. Danke!

Die Federsammlung an meinem Hut wächst stetig.
Das alte Bahnhofsgebäude von Baye läutete meinen Endspurt ein.
Nach so einem Gewaltmarsch gab es nichts besseres als eine Dusche und ein kühles Bier. Das hatte ich mir heute echt verdient.

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