32. Etappe: Germaine – Pierry
Gelaufen: 18,1 km (Gesamt: 634,5 km)
Irgendwie war aktuell wieder der Wurm drin. Schon das Aufstehen war sehr schleppend und ich bin auch während des Frühstücks nicht wirklich in die Gänge gekommen. Ich habe unbewusst relativ viel Zeit verbummelt und meine Motivation hat nach einem Brief aus der Heimat verlangt. Damit habe ich an dem Morgen schon Brief Nummer zwei von fünf geöffnet. Diesmal enthielt er ein kleines Flussdiagramm zum Schmunzeln sowie ein Notenblatt von einem Lied, das ich mir auch gleich über Spotify auf mein Handy geladen habe.
Zwar waren Energie und Motivation immer noch nicht da, wie ich es mir gewünscht hätte, aber ich hatte ja keine andere Wahl. Und nur langsam voranzukommen war immerhin besser als gar nicht voranzukommen. Jeder Meter zählte.
Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als ich mich auf den Weg machte, und umso erleichterter war ich, dass mein erster Wegabschnitt im schattenspendenden Wald lag. Das erste Stück musste ich noch an der Straße zurücklegen, aber schnell kam ich auf einen breiten Waldweg, der anscheinend primär für die Forstwirtschaft genutzt wurde. Vorbei an blühendem Fingerhut und vielen Fußabdrücken diverser Tiere – sie fielen mir wieder auf, da ich ständig auf den unebenen Pfad acht geben musste – gelangte ich schließlich zu einem ansehnlichen See mitten im Wald.
Hier bemerkte ich leider noch stärker, was mir schon seit der gestrigen Etappe aufgefallen war: So schön der schattige Wald in diesem sommerlichen Wetter auch war: Sofort waren auch alle möglichen Insekten wieder da. Ich hatte also ständig irgendwelche kleinen Fliegen hektisch in meinem Sichtfeld umherfliegen, extrem laute Brummer, die mich endlos umkreisten und vor allem mehrere Dutzend Mücken, die kontinuierlich versuchten, sich bei mir einen Snack abzuholen. Letzteres stellte sich als besonders lästig heraus, wenn ich ab und zu zum Fotografieren stehen blieb und diese Biester sofort ihre Strohhalme und Sabberlätzchen auspackten. Da half es schließlich nur, in Bewegung zu bleiben.
Nachdem ich so einige Stunden und die knappe Hälfte der Tagesetappe hinter mich gebracht hatte, lichtete sich wieder der Wald und von dem Hügel, den ich zuvor erklommen hatte, bot sich mir ein wundervoller Ausblick über die Champagne. Vor mir erstreckten sich weite Weinfelder (oder wie würdet ihr flache Weinberge nennen?) und in der Ferne konnte man bereits die Stadt Épernay sehen. Ein kurzer Blick auf meinen Wanderführer bestätigte mir auch, dass an diesem Aussichtspunkt auch das Titelbild des Büchleins entstanden ist.
Aber obwohl Épernay die nächstgrößere Stadt war und ein beliebtes Ziel für Weinliebhaber ist, wurde mir eher empfohlen, einen Bogen um den Ort zu machen, da die Stadt sonst wohl nicht viel zu bieten hatte. Also folgte ich weiter den gelben Jakobsmuscheln und landete auch bald in dem kleinen Dörfchen Hautvillers, das Kennern wohl ein Begriff sein sollte. Dieses Dorf wird oft als die Geburtsstadt des Champagners betrachtet und obwohl der Ort nur sehr klein ist, findet man dort sehr viele namhafte Weingüter. Als bekanntester Vertreter wäre hier Moët & Chandon zu nennen. Im Grunde bestand das Dorf nur aus einer Aneinanderreihung von edlen Wirtschaften, aber alles wirkte pfleglich umsorgt und war deshalb sehr hübsch anzuschauen.
Nachdem ich durch Hautvillers durchgeschlendert war, hatte ich weitere Weinberge zu durchqueren und erneut merkte ich die gnadenlose Hitze, die die französische Sommersonne mit sich brachte. Das Wetter machte das Wandern und jede einzelne Bewegung noch anstrengender und während sich bei mir immer mehr die Erschöpfung breit machte, geriet ich wieder ins Grübeln. Ich hatte seit gut zwei Wochen keinen Regen mehr gesehen, jeden Tag schossen die Temperaturen in die Höhe und immer wieder fiel mir auf, wie unsagbar trocken der Boden wirkte. Auf gewöhnlichen Feldwegen und Trampelfaden waren die Trockenrisse im Boden bereits zu Canyons mutiert – und trotzdem war es überall so grün! Während unbewachsener Boden Dürre schrie, waren Wälder und Pflanzen saftiger denn je. Wie passte das zusammen?
Mit ratterndem Hirn nahm ich fast gar nicht wahr, dass ich selbst in der Hitze einige Kilometer hinter mich brachte und erst, als ich den Fluss Marne überquerte, der namensgebend für dieses Departement war, realisierte ich meinen Fortschritt. Als wäre dies nicht schon genug, begegnete ich dort zwei netten Seniorinnen, die mich rasch in ein kleines Gespräch über meine Pilgerreise verwickelten (So gut es eben mit meinem stümperhaften Französisch ging). Als ich ihnen dann noch erzählte, dass ich bereits letzten Monat in Deutschland gestartet war, äußerten sie ihre größte Bewunderung und wünschten mir alles erdenklich Gute und viel Erfolg für meinen weiteren Weg. Mit so viel gutem Zureden und unerwartetem Bauchpinseln bin ich die letzten Kilometer quasi geflogen.
Ein letztes Mal für diesen Tag ging es vorbei an einigen Feldern und über sonnige Weinhügel, ehe ich auch schon mein Etappenziel Pierry erreichte. Meine Unterkunft in dem Ort war sehr schön und diente wohl nicht selten als Location für Hochzeitsfeiern, doch an diesem Tag teilte ich mir die Anlage lediglich mit einigen entspannten Urlaubern. Allerdings gestaltete sich die Suche nach einem angemessenen Abendessen zunächst als abenteuerlich. Zwar befand sich in der Nähe eine Kneipe, die aber außer Beilagensalaten keine vegetarischen Optionen zu bieten hatten. Eine Alternative war der nächste Supermarkt – der einen Kilometer entfernt lag. Nach einem Pilgertag auch nicht das Optimum. Aber so entschloss ich, in den sauren Apfel zu beißen und mich auf den Weg in den Supermarkt zu machen. Aber das Glück war auf meiner Seite und so fand ich bereits zwei Straßen weiter eine Bäckerei (die über Google nicht verzeichnet war), die ein tolles Angebot an belegten Brötchen und zudem noch sehr großzügige Öffnungszeiten hatte, sodass nicht nur mein Abendessen, sondern auch mein morgiges Frühstück gesichert war. Jackpot.