23. Etappe: Florenville – Sedan
Gelaufen: 27,1 km (Gesamt: 484,5 km)
Mein Tag hatte eigentlich ganz gut begonnen. Zwar etwas spät, aber das Wetter war schön und ich hatte sehr gut geschlafen. Zunächst führte mich mein Weg durch Florenville und anschließend versuchte ich mir mit Hilfe von Online-Karten meinen Weg auf eigene Faust zu finden.
Doch schon sehr bald traf ich auf gelbe Muscheln, mit denen ich absolut nicht gerechnet hatte. Sie erinnerten mich stilistisch an die Muscheln, die ich bereits letztes Jahr in Belgien gesehen hatte, weshalb ich mich fragte, ob sie zum selben Weg gehörten.
Da die Muscheln auf einen Feldweg wiesen, der in meinen Karten nicht vorhanden war, beschloss ich, dem Jakobsweg zu vertrauen und den Wegweisern zu folgen. Da mein Internet hier etwas bescheiden war und ich deshalb nicht verifizieren konnte, wohin mich der Weg führen würde, beschloss ich, einen Joker zu nutzen und bat meinen Mann, für mich zu recherchieren (für eine einfache Nachricht reichte das mobile Netz, für umfangreiches Googeln nicht). Nachdem er mir bestätigt hatte, dass es sich um den Ardennenweg handelte und dieser durch einen Ort durchführen sollte, der noch auf meinem Weg lag, folgte ich fröhlich den Muscheln.
Ich lief immer tiefer in ein Waldstück hinein und mir fiel zwar auf, dass ich mich nach Südosten bewegte, hatte aber nach wie vor die Hoffnung, dass der Weg schon in die richtige Richtung gehen würde. Als der Weg mich aber zunehmend mehr und mehr nach Osten führte, kamen mir meine Zweifel. Ein Blick auf die Karte verriet mir auch, dass dieser Weg noch lange weiterführte bevor die nächsten Abzweigungen kamen. Und das würde für mich definitiv einen riesigen Umweg darstellen. Also verwarf ich wieder meine Idee, den Muscheln blind zu folgen und latschte den ganzen Weg zurück.
Auf dem Weg erwartete mich dann eine Überraschung bei der mir etwas mulmig wurde. Es war keine 10 Minuten her, dass ich diesen Weg in die eine Richtung entlang gelaufen war. Nun aber lag da ein kleiner Baum auf dem Weg. Der war vorher definitiv noch nicht dagewesen! Anscheinend reichten 10 Minuten vollkommen aus, um einen Baum auf die Straße zu werfen. Und das auch noch bei schönem Wetter ohne Wind und Sturm. Das gab einem nochmal neue Demut vor der Natur.
An der nächsten Abzweigung angelangt schlug ich einen Weg Richtung Südwesten ein und bewegte mich so offiziell nach Frankreich. Der Weg, den ich zunächst für einen Wanderweg hielt, wurde immer schmaler und immer mehr zugewuchert. Letztendlich entwickelte sich der Weg mehr zu einem Hindernislauf als einer Wanderung. Und wieder einmal war ich froh, meine Wanderstöcke zu haben. Nachdem ich mich in gefühlter Zeitlupe durch den Wald geschlagen habe, war ich vollkommen fertig mit den Nerven, als ich auf offenem Feld angelangt war. Und ein eher zufälliger Blick nach unten ließ mich staunen.
Jeder von euch sollte Mohnbrötchen kennen. Die Brötchen mit den unzähligen vielen schwarzen Punkten oben drauf. So in etwa sahen meine Hosenbeine aus – nur in 360° Panorama. Zecken. Hunderte und aberhunderte Zecken. Und wieder einmal war ich überglücklich, dass ich offensichtlich immun gegen Zecken war. Ich hatte noch nie in meinem Leben einen Zeckenbiss und ich wollte mir auch nicht ausmalen, wie diese hunderte Zecken bei anderen Menschen reagiert hätten.
Rasch schüttelte ich meine Hosenbeine ab und begab mich am Feldrand entlang zur nächsten Straße. Nach einem weiteren Kilometer kam ich endlich in ein Dorf. Na ja, Dorf war übertrieben. Es war ein kleiner Kindergarten und zwei Wohnhäuser. Daher setzte ich mich für meine Pause einfach in das Gras am Straßenrand. Die Pause hatte ich nach dem langen Umweg und der Klettertour im Wald dringend nötig. Irgendwie hatte mir der Tag jetzt schon gereicht.
Aber ich musste ja weiter. Nach meiner Pause verfolgte ich eine Straße, die eigentlich gesperrt war, was sich als unglaublich angenehm herausstellte. Vollkommen ohne Autos war die breite Landstraße ruhig und man konnte gemütlich seine Kilometer zurücklegen. Von der offiziell gesperrten Landstraße gelangte ich nach einigen Kilometern wieder auf einen Feldweg und konnte diesen eine Weile verfolgen. Unterwegs sah ich viele Schafe, die mich ein klein wenig bei Laune hielten aber im Grunde war ich psychisch total im Eimer. Durch das späte Aufstehen und den Umweg war ich schon vollkommen in Verzug. Ich hatte eine feste Uhrzeit bis wann ich in meiner Unterkunft sein musste und selbst jetzt wirkte diese schon vollkommen utopisch. Vor allem der ungeplante Umweg hat mir mächtig in die Suppe gespuckt. Und mit jedem weiteren Kilometer, den ich zurücklegte und jedem weiteren Dorf, das ich hinter mir ließ, realisierte ich zunehmend, dass ich mein Ziel unmöglich rechtzeitig erreichen konnte. An diesem Tag habe ich nicht nur einmal eine Pause zum Heulen gebraucht. Heute war einfach alles zu viel. Ich habe an allem gezweifelt und immer wieder über das Aufgeben nachgedacht aber tief in mir drin wusste ich, dass das keine Option war. Ich wusste ganz genau, wenn ich aufgeben würde, würde ich mir selbst für immer Vorwürfe machen. Schließlich kannte ich mich selbst gut genug und wusste genau, dass mich der Ärger noch Jahrzehnte verfolgen würde, wenn ich diese Reise nun abbrechen würde.
In meiner Verzweiflung hatte ich ein Telefonat mit meinem Mann der mir erstmal wieder den Kopf zurechtrückte. Ich war von Haus aus Perfektionistin und wollte natürlich den kompletten Jakobsweg zu Fuß laufen, aber mein Mann holte mich auf den Boden der Tatsachen zurück und versicherte mir, dass es in Ordnung wäre, wenn ich einige Kilometer mit öffentlichen Verkehrsmitteln fuhr. Immerhin würde ich noch genug Kilometer nach Santiago laufen und bei über 2500 km käme es auf diese 10 km auch nicht mehr an.
Und schweren Herzens musste ich realisieren, dass er Recht hatte. Und so schlug ich einen kurzen Richtungswechsel ein und steuerte das nächste Dorf mit Bushaltestelle an, Pouru-Saint-Remy. Ich hatte Glück, dass von dort tatsächlich noch ein Bus nach Sedan fuhr, allerdings hatte ich noch eine Stunde Wartezeit. Aber das sollte nun mein kleinstes Problem sein.
Ich wartete , der Bus kam und ich fuhr vollkommen müde und verheult nach Sedan.