Belgien

21. Etappe: Arlon – Marbehan

Gelaufen: 25,6 km (Gesamt: 437,0 km)

Mein Tagesstart war alles andere als gut. Es fing schon damit an, dass ich mich kaum aus dem Bett schleppen konnte. Ich war irgendwie müde und das Wetter draußen war dicht bewölkt und sah eher nach Regen aus. Hinzu kam auch noch, dass ich nicht mit Vorfreude auf die vor mir liegende Etappe blicken konnte, da ich befürchtete, wieder nur Straßen, Straßen und nochmal Straßen auf meinem Weg zu haben. Und das machte wirklich keine Freude.

Immerhin waren in Belgien breite Fahrradwege an den Schnellstraßen recht verbreitet.

Ich ging zwar meiner gewöhnlichen Morgenroutine nach, aber dennoch fühlte sich in meinem Kopf alles wie Zeitlupe an. Ich wollte einfach nicht. Aber dann fiel mir tatsächlich eine Notfall-Ration an Motivation ein, die ich ja noch im Rucksack hatte: Bevor ich auf den Jakobsweg aufgebrochen bin, haben mir meine Freunde jeder einen Brief geschrieben, die mir mein Mann am Abend vor meiner Abreise überreicht hat. Der Gedanke war: Wann immer ich es brauchte, konnte ich mir einen Brief nehmen und ihn lesen. Und heute war definitiv so ein Morgen, an dem ich ein bisschen Liebe aus der Heimat vertragen konnte.

Gepuscht von den lieben Worten habe ich mich endlich aufraffen können, die heutige Reise anzutreten. Wie zunächst befürchtet, blieb mir leider nur die nächste Schnellstraße, um Arlon zu verlassen, aber auch da wurde ich schon bald auf andere Gedanken gebracht. Die Straße führte hinter Arlon zuerst durch den Ort Stockem, wo mir sofort ein kleines Denkmal auffiel. Beim genauen Betrachten konnte man der Gedenktafel entnehmen, dass einem knappen Dutzend Toten gedacht wurde, Soldaten und Zivilisten, die ihr Leben im ersten Weltkrieg ließen, sowie fünf Menschen, die von der Gestapo ermordet wurden. Mir hat sich sofort der Magen umgedreht. Ich kann nicht sagen, woran es lag, aber dieser Anblick hat mich unglaublich betroffen gemacht. Diese Geschehnisse liegen schon viele Jahrzehnte zurück, aber trotzdem geschehen derartige Gräuel auch heute noch…

Selbst in kleinen Dörfern lebt die Erinnerung an Gefallene weiter.

Für eine kurze Weile wurden meine Gedanken von Weltschmerz getragen, aber so merkte ich immerhin die vielen Kilometer an der Schnellstraße nicht. Und zum Glück konnte ich diese kurzzeitige emotionale Aufgewühltheit auch wieder abschütteln, sodass es zumindest nicht nachhaltig meine Tageslaune runtergezogen hat. Von der Schnellstraße abweichend überquerte ich das Flüsslein Semois, das auch die restliche Etappe stets in relativer Nähe zu meiner Route verlaufen sollte, und folgte weiter dem Wanderweg GR16. Die GR-Wanderwege (GR = Grande Randonée) sind ein Netz an Fernwanderwegen, die sich vor allem durch Frankreich aber auch angrenzende Nachbarländer erstreckten. Sie sind meist in rot-weiß markiert und folgen einer gängigen Notationsart für Wanderwege.

Die Semois entspringt in Arlon und schlängelt sich von Ost nach West durch Südbelgien.

Ab hier verlief der größte Teil der restlichen Strecke über Feldwege und ich hatte mir vollkommen umsonst Sorgen um diese Route gemacht. An den Feldwegen sah ich vor allem immer wieder viel Vieh, meist Kühe und später auch Schafe, aber ich bekam auch vereinzelt Pferde, Ponys, Esel und Ziegen zu Gesicht. Das aufmunterndste an der heutigen Strecke war aber wohl die Tatsache, dass sämtliches Vieh mit frischem Nachwuchs auf der Weide war, sodass man ständig Kälbchen und Lämmer über die vielen Wiesen toben sah. Das sorgte natürlich dafür, dass ich heute besonders langsam voran kam, aber dafür hatte ich meine Freude am Beobachten.

Gerade diese drei Kälber waren unglaublich verspielt und sind zeitweise den Krähen auf der Weide hinterhergejagt. Ein sehr niedlicher Anblick.

In der Ortschaft Étalle legte ich eine kurze Pause ein, um mir meinen heutigen Stempel abzuholen und die örtliche Kirche anzuschauen. Kirchenbesuche mochte ich auf meiner Pilgerreise ganz besonders gerne, vor allem, wenn es sich um kleine, versteckte Dorfkirchen handelte, wo man wirklich mal für sich war und seine Ruhe hatte. Und wo man anschließend auch in Ruhe die ganze Kirche besichtigen konnte, ohne dass man wiederum andere Menschen störte.

Bunte, farbenfrohe Fenster mag ich in Kirchen besonders gerne.

Nachdem ich vor der Kirche noch eine Kleinigkeit zu mir genommen habe, machte ich mich an den letzten Abschnitt meiner heutigen Etappe. Kaum hatte ich Étalle verlassen, warteten wieder Felder und Wiesen auf mich, selbstverständlich inklusive Kühen und Schafen. Dabei hatte ich wieder die ein oder andere tiefgründige Diskussion mit einigen Schafen und konnte ungehindert den Kühen einige Disney-Lieder vorsingen, bevor ich wenige Kilometer vor meinem Ziel doch wieder auf eine mehr befahrene Straße ausweichen musste.

Wenigstens eine Weile durfte ich auf Feldwege ausweichen, die sich gar nicht so stark von denen in Luxemburg unterschieden.

Natürlich war auch diese Straße mit einem breiten Radweg ausgestattet, den ich ganz dreist zum laufen nutzte, und schleppte mich mühselig den restlichen Weg bis nach Marbehan. Von dort aus nahm ich wieder den Zug nach Arlon, da ich auf diesem Abschnitt wieder Probleme hatte, eine bezahlbare Unterkunft zu finden. Aber solange es die Option Zug gab und ich morgen genau hier meinen Weg fortsetzen konnte, betrachtete ich diese Umstände als nicht allzu großes Übel.

Ein Kommentar

  • Anett Köhler

    Liebe Eva,
    nun sehe ich mich veranlasst, dir über diesen Weg mal “Danke” zu sagen.
    Die Berichte über deine Etappen inklusive der schönen Bilder sind so schön zu lesen.
    Ich freue mich auf jeden Beitrag und bin sehr gespannt auf alles was noch kommt.
    Ende August will ich das erste mal auf Pilgertour gehen. Aber nur im kleinen und in Deutschland (MVP). Ob ich wie du den Mut und die Ausdauer hätte, über so einen langen Zeitraum zu laufen, das wüsste ich nicht.
    Besonders schön in Etappe 21 fand ich, dass du Briefe von Freunden dabei hast. Eine sehr schöne Idee.
    Wenn ich deine Berichte lese, ist es manchmal so, als ob ein Film von deinem erlebten in meinem Kopf abläuft. Einfach toll geschrieben!
    Nun wünsche ich dir weiterhin einen “Buen Camino” und sende herzliche Grüße aus Hessen,
    Anett

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