37. Etappe: Méry-sur-Seine – Savières
Gelaufen: 14,5 km (Gesamt: 738,1 km)
So entspannt der gestrige Abend auch war, desto hektischer war der heutige Morgen. Da ich heute wieder nur wenige Kilometer vor mir hatte, ich aber erst für 17 Uhr mit meiner Gastgeberin verabredet war, nahm ich an, ich hätte ewig Zeit. Und so startete ich zunächst gelassen in den Tag und dachte, ich könnte das WLAN der Unterkunft noch etwas zum Schreiben nutzen, aber nichts da. Pustekuchen! Um halb neun stand bereits die Putzkraft in meiner Zimmertür und gab mir zu verstehen, dass ich mich so bald wie möglich aus dem Staub machen sollte. Zum Glück hatte ich die meisten Sachen bereits zusammengepackt, doch erst beim Aufbruch fiel mir auf, dass über Nacht das Netzteil meines Handyladekabels abgeraucht war. Aber ich sollte bereits morgen in Troyes, einer größeren Stadt, sein, wo ich mir hoffentlich ein neues Netzteil kaufen konnte. Ärgerlich war es natürlich trotzdem, dass ich mich mit nur halber Akkuladung auf den Weg machen musste.

Aber schnell stellte sich die Frage: Was mache ich nur mit so viel Zeit? Ich hatte quasi acht Stunden Zeit für nur wenige Kilometer und ich bewegte mich lediglich durch kleine Ortschaften ohne nennenswerte Infrastruktur. Und selbst ein ausgiebiges Frühstück an meinem Startort war nicht drin, da ich wieder schmerzlich feststellen musste, dass der Montag in Frankreich ein allgemeiner Ruhetag war und somit alle Cafés und Geschäfte geschlossen waren. Meine einzige Hoffnung war eine kleine Kneipe an Schleuse Nummer acht, die sogar in meinem kleinen Wanderführer empfohlen wurde – allerdings stellte sich auch hier nach kurzem googeln heraus, dass die Kneipe ausgerechnet heute geschlossen hatte.

Etwas planlos schlenderte ich also weiter am Kanal entlang, selbes Programm wie gestern. Und heute sollte sich wirklich nicht viel an der Szenerie ändern. Kanal, Schleusen, Kanal und noch mehr Kanal. Und ein paar Schleusen. Dennoch ließen sich zwischendurch einige Tiere blicken, sodass mir die riesigen Fische und bunten Insekten wenigstens etwas Abwechslung gaben. Und wenn es doch etwas monoton und langweilig wurde, versuchte ich mich daran, einige Texte auf dem Handy einzudiktieren, so lange es der Akku noch hergab.

Das sommerliche Wetter schien aber auch einige Franzosen vor die Tür zu locken, sodass ich auf dem langen, ebenen Wegstück immer wieder Radfahrern begegnete. Einer von ihnen blieb sogar stehen und fragte mich nach meiner Pilgerreise. Nach wie vor lässt mein Französisch sehr zu wünschen übrig, aber es reichte, um mit Händen und Füßen zu erklären, woher ich kam und wohin ich ging. Und der nette Radfahrer empfahl mir eine kleine Kneipe an Schleuse Nummer acht – also genau jene, die ich ursprünglich angepeilt hatte – und versicherte mir, dass sie heute offen war, obwohl das Internet etwas anderes behauptete. Immerhin war er erst wenige Kilometer zuvor an der Bar vorbeigefahren und hat gesehen, dass sie geöffnet hatte. Und so schöpfte ich wieder neue Motivation für den Weg, und hoffte, in besagter Kneipe eine längere Pause machen zu können. Vor allem bei den immer weiter steigenden Temperaturen war die Aussicht auf einen schattigen Pausenplatz sehr beflügelnd.

Tatsächlich erblickte ich nach einem weiteren eintönigen Stück am Kanal entlang endlich meine ersehnte Oase. Die Kneipe war eher klein und spärlich eingerichtet, aber irgendwie gemütlich. Und neben Schatten und kühlen Getränken gab es sogar etwas zu Essen und eine Toilette. Auf so langen Fußstrecken war vor allem Letzteres immer viel wert. Es gab einem gefühlt ein Stück Menschlichkeit zurück. Die Essensauswahl ließ aber auch hier zu wünschen übrig. Das man als Veganer in Frankreich keine Überlebenschancen hatte, war mir sehr schnell klar geworden, aber auch als Vegetarier hatte man es alles andere als leicht. Vegetarismus schien in Frankreich einfach nie wirklich in Mode gekommen zu sein. Und so begnügte ich mich mit einer Portion Fritten mit Mayo und einem kleinen Bier.

Während ich langsam meine kleine Mahlzeit genoss, beobachtete ich etwas das Geschehen um mich herum und stellte schnell fest, dass diese kleine Bar vor allem von einheimischem “arbeitenden Volk” besucht wurde und nicht, wie ich zunächst angenommen hatte, von Radfahrern und Ausflüglern. Nicht wenige Handwerker schienen hier in ihrer Mittagspause vorbeizukommen und vom Umgangston mit dem Barbesitzer waren die meisten wohl auch Stammgäste. So wurden selbstverständlich stets alle begrüßt, sobald jemand die Kneipe betrat. Und auch in meine Richtung, warf mir jemand ein freundliches “Bonjour Monsieur” entgegen. Ich grüßte zurück und machte mir nichts aus der Anrede, da mir bewusst war, dass ich mit meinen kurzgeschorenen Haaren, ungeschminkt und eher in weite, praktische Kleidung gehüllt nicht gerade die geballte Weiblichkeit ausstrahlte. Doch meinem Gegenüber – nachdem er meine Stimme gehört und seinen scheinbaren Fehler erkannt hatte – war die Situation offensichtlich deutlich peinlich. Er korrigierte sich auf “Madame”, entschuldigte sich zig Male und spendierte mir das nächste Bier. Nicht, dass mich die männliche Anrede ernsthaft gestört hätte, aber zu einem spendierten Getränk sagt man als Pilger nie nein.
Daher verlängerte ich meine Pause, genoss noch das zweite kühle Bier und wollte mich gerade daran machen, wieder einige Texte am Handy zu bearbeiten, als ich mitbekam, dass sich einige Herren in der Ecke indirekt über mich unterhielten. Mein Französisch ist zwar kaum existent, aber ich verstand, dass sich das Gespräch um Pilger, Wandern und Deutschland drehte. Mal von den immer wieder flüchtig zu mir rübergeworfenen Blicken ganz abgesehen. Und irgendwie machte es mir der Umstand noch schwerer, mich auf meine Arbeit zu konzentrieren. Daher gab ich es schließlich auf, bezahlte meine Rechnung und machte mich wieder auf den Weg. Der nächste ruhige Schatten würde sich hoffentlich noch finden. Die Zeit hatte ich heute ja immerhin.

Es war erst früher Nachmittag, als ich mich bereits dem Ende meiner heutigen Etappe näherte. Immerhin gab es nun am Kanal etwas dichteren, höheren Bewuchs, sodass einige Bäume ihren Schatten auf den Weg warfen. Aber mit dem Schatten kamen auch die verhassten Mücken wieder. Und diese Mistviecher wurden mittlerweile so dreist, dass sie mich sogar durch den Stoff meiner Kleidung stachen. Aua! Aber ich musste zum Glück nicht mehr so lange am Wasser entlanglaufen. Als schließlich meine Kreuzung kam, an der ich zur Unterkunft vom Kanal weg abbiegen musste, stellte ich fest, dass der Fuß- und Radweg am Kanal ab hier sowieso gesperrt war. Nach kurzer Nachfrage stellte sich heraus, dass Nutrias (die großen pelzigen Wasser-Nager, die sich mittlerweile in ganz Europa breit machen) mit ihren Tunnelsystemen den ganzen Weg untergraben haben und dieser jetzt abschnittsweise wegbrach und erneuert werden musste. Und irgendwie brachte mich diese Erkenntnis zum schmunzeln, auch wenn es für die Ansässigen wohl ärgerlich war.

Der letzte Wegabschnitt führte mich durch einen kleinen Wald, der in der Mittagshitze trotz zahlreicher Insekten sehr angenehm war. Das Idyll wurde lediglich von regelmäßigen lauten Knallgeräuschen gestört, die sich im Nachhinein als Schreckschussanlagen herausstellten, die Vögel von den Feldern fernhalten sollten. Und ehe ich mich versah, war ich auch schon an meinem Ziel, einem kleinen Ort Namens Savières, angekommen. Ich stand vor der angegebenen Adresse und war zwei Stunden zu früh da. Aber gerade, als ich mir einen Schattenplatz in der Nähe suchen wollte (ich hatte absolut kein Problem damit, mich für zwei Stunden irgendwo auf den Boden zu setzen), kam auch schon ein Auto auf die Einfahrt zugefahren. Eine Dame im fortgeschrittenen Alter sprach mich gleich mit Vornamen an – es handelte sich tatsächlich um meine Gastgeberin Madame Martine – und ärgerte sich erstmal darüber, dass ich viel zu früh war. Ich versuchte ihr deutlich zu machen, dass es mir absolut nichts ausmachte, draußen zu warten, und dass sie mich einfach die zwei Stunden ignorieren sollte, aber das passte ihr auch nicht so Recht. Und trotz anfänglichen Spannungen, arrangierten wir uns doch ganz schnell miteinander und kamen schließlich auf einen gemeinsamen Nenner. Und vor allem ihre Hündin hatte sich anscheinend Hals über Kopf in mich verliebt.

Ich wurde ja bereits im Vorfeld gewarnt, dass die Dusche nicht funktionierte, weshalb mir Madame Martine zeigte, wie die provisorische Camping-Dusche in ihrem Garten funktionierte. Bei den heißen Sommertemperaturen störte es mich auch weder, dass ich draußen Duschen musste, noch dass das Wasser nur lauwarm war. Eigentlich mal eine nette Abwechslung. Die kleine Prise Abenteuer im Pilger-Alltag. Frisch geduscht konnte ich meiner Gastgeberin schließlich auch etwas im Haushalt und beim Vorbereiten des Abendessen helfen. Ich war sehr entzückt, dass es vor allem sehr viel frisches Gemüse gab, was in Frankreich – zumindest auf meinem bisherigen Weg – eine Mangelware war.
Nach dem gemeinsamen Abendessen blieben wir noch eine ganze Weile am Tisch sitzen und unterhielten uns über Gott und die Welt. Madame Martine sprach zwar nur Französisch, aber über eine Übersetzungs-App am Handy konnten wir richtig gut miteinander reden. Sie erzählte mir, dass in der Nacht zuvor Carla bei ihr übernachtet hatte (die allerdings so die Nase voll hatte von dem langweiligen geraden Weg am Kanal entlang, dass sie mit dem Bus nach Troyes gefahren ist), dann unterhielten wir uns über Persönliches, diskutierten über aktuelle Politik, Gesellschaft und Kultur und schließlich gab sie mir einige Tipps für Troyes und was ich dort unbedingt sehen und besichtigen müsste. Sie zeigte mir die wichtigsten Punkte sogar auf einer Stadtkarte, erklärte, dass die Altstadt in Form eines Champagner-Korkens aufgebaut ist und gab mir zum Abschluss den Auftrag, dass ich für sie unbedingt Le Cœur – das Herz – besuchen sollte. Und so stand mein Plan für die nächsten zwei Tage fest.

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