Frankreich

35. Etappe: Sézanne – Baudement

Gelaufen: 24,7 km (Gesamt: 710,9 km)

Ich hatte heute bereits einen unterwältigenden Tagesstart, indem ich erstmal souverän das Klingeln meines Weckers überhört habe und erst am späten Morgen aus dem Bett gefallen bin. Aber sonst: Ein neuer Morgen, das alte Leid. Kaum war ich wach, plagten mich wieder die deprimierenden Gedanken an die Organisation meiner Unterkünfte. Immerhin hatte ich augenscheinlich für diesen Abend schon eine bleibe. Aber dennoch stellte sich immer noch die Frage, wo ich die nächsten Tage schlafen sollte. Kaum eine Unterkunft antwortete auf meine Anfragen und die wenigen Telefonate waren absolut niederschmetternd, denn was nicht ohnehin schon an der Sprachbarriere scheiterte, scheiterte spätestens an der mangelnden Kooperationsbereitschaft unfreundlicher Franzosen. Ich war an einem absoluten Tiefpunkt angekommen und hatte eigentlich auch gar keinen Bock mehr auf den Jakobsweg.

Aber aus Mangel an Alternativen begab ich mich erstmal auf den Weg und suchte mir noch in Sézanne einen Ort zum Frühstücken. Wie der Zufall es so wollte, saß auch schon Carla im Café und trank ihren ersten Kaffee. Sie hatte beschlossen, es an dem Tag gemütlicher anzugehen und war deshalb zu so später Stunde noch nicht gestartet. Was ein Glück! So konnten wir beim Frühstück einen Schlachtplan für mich ausarbeiten und vor allem gab sie mir den Tipp: keine Mails schreiben. Anscheinend lasen Franzosen prinzipiell keine Mails. Die bessere Option war es, bei vorhandener Handynummer eine WhatsApp-Nachricht oder eine SMS zu schreiben. Hätte ich das bloß vorher gewusst…
Und noch während wir aßen und über unseren Wanderführern saßen, gesellte sich auch bald ein älterer Herr zu uns, der uns erklärte, dass er sich vor Ort um die Pflege des Jakobsweges kümmerte. Also aktualisierten wir mit seiner Hilfe unsere Unterlagen, strichen Unterkünfte raus, die die Pandemie nicht überlebt hatten, und notierten neue Adressen, die noch nicht in unseren Büchern standen. So frustrierend der Morgen also auch war – aus der ausgedehnten Frühstücksrunde konnte ich definitiv neue Hoffnung schöpfen!

Kurz vor zehn begab ich mich endlich auf die heutige Etappe. Carla hatte sich noch im Café verabschiedet, da wir definitiv viel zu unterschiedliche Laufgeschwindigkeiten hatten. Aber wir hatten ja heute das selbe Ziel. Obwohl es noch weit vor Mittag war, war es bereits brütend heiß und die Sonne schien wirklich alles zu geben. Etwas außerhalb von Sézanne passierte ich zunächst einen fast leeren Campingplatz, was mich zum Grübeln brachte, ob es sich nicht lohnen könnte, ein Zelt zu kaufen. Das wäre zwar zusätzliches Gewicht, aber vielleicht hätte ich dann nicht mehr so einen Stress mit der Schlafplatzsuche.

Gleich zu Beginn meines Tages begegnete ich einem sehr witzig gestalteten Wegweiser. Buen Camino, eiserner Pilger!

Der Weg führte mich vorbei an einem netten Wegweiser durch einige Felder, in denen es nur so von blauen Schmetterlingen wimmelte, und anschließend durch ein kleines Waldstück. Der schattige Abschnitt durch des Wald tat richtig gut, denn auf Dauer war die Hitze sehr anstrengend, dabei hatten wir den Höhepunkt des Tages noch gar nicht erreicht. Umso besser, dass ich heute eine nicht ganz so lange Etappe vor mir hatte. Das reichte bei dem Wetter auch vollkommen.
Das Ende des Waldes wurde schließlich von einer Kolonie lautstarker Frösche angekündigt, die in einer beeindruckenden Stimmgewalt vor sich hin quakten. Dahinter folgte eine kleine Obstplantage, die nicht wirklich einen Fußweg offenlegte, aber nachdem ich unbeirrt weiter geradeaus gelaufen bin, habe ich auf der anderen Seite auch die Fortsetzung des Weges gefunden.

Ein angenehm kühler Waldweg.
Ton an und Bühne frei! Die Frösche haben sich definitiv viel Mühe gegeben.
Der Jakobsweg führt anscheinend geradewegs durch eine Obstplantage.

Plötzlich fand ich mich in einem kleinen Dorf wieder, das zumindest eine hübsche kleine Kirche hatte, die draußen einige Sitzbänke im Schatten bot. Und auf einer dieser Bänke saß bereits Carla. Das war mein Zeichen, hier meine erste Pause einzulegen. Ich wollte Carla gerade schon begrüßen, da gab sie mir wild gestikulierend zu verstehen, still zu sein. Und als ich der Kirche näher kam, wusste ich auch warum: Bei weit offen stehender Tür fand in der Kirche gerade eine Hochzeit statt. Also setzte ich mich nur still zu meiner Mitpilgerin und im Flüsterton unterhielten wir uns über Hochzeiten und französische Sitten, während wir uns an unserem Proviant stärkten. Bei mir gab es wieder nur trockenes Baguette, weil es das einzige zu sein scheint, was man in diesem Land überall in Massen hinterhergeworfen bekommt.
Es fühlte sich zwar seltsam an, mit Rucksack, Wanderschuhen und verschwitzen Klamotten diese Feierlichkeit zu beobachten, aber die Hochzeitsgesellschaft schien sich nicht an uns zu stören – im Gegenteil waren einzelne Leute sogar an unserer Pilgerschaft interessiert und verwickelten uns ins Gespräch. (Oder besser gesagt: Carla wurde mit ihrem fließenden Französisch ins Gespräch verwickelt, während ich hochkonzentriert bemüht war, dem Gespräch zu folgen.)

Nach dieser angenehmen Pause begab ich mich auf den nächsten Abschnitt meiner Etappe. Und ab jetzt sollte es die Hölle werden. Laut Wanderführer und Carla sollte die restliche Strecke nur noch durch Felder und entlang einer alten, nicht mehr in Betrieb befindlichen Bahnstrecke verlaufen. In diesen brutal sommerlichen Verhältnissen alles andere als ein Spaß. Aber ich musste weiter. Immerhin hatte ich schon ein festes Ziel vor Augen und meine Wasserflasche hatte ich am Kirchenbrunnen noch frisch befüllt.
Gleich am Ortsausgang wurde ich schon durch ein altes Stationsgebäude von der angekündigten Bahnlinie begrüßt und ich erkannte schnell: Die restliche Etappe sollte wirklich nicht mehr bieten als Felder, Sonne, Felder und nochmal Sonne. Was war ich wieder froh um meinen Sonnenhut…

Die ehemalige Bahnstation läutete den anstrengenden Part der Etappe ein.
Diese Schienen sollten an dem Tag mein konstanter Begleiter sein.

Wie es bei so eintönigen Landschaften immer so war, zog sich die Etappe wie alter Kaugummi und die Hitze machte es nicht besser. Irgendwann ging ich dazu über, jeden einzelnen Schatten zu nutzen, der meinen Weg kreuzte und so kam es auch, dass ich ein weiteres Mal auf Carla traf. Sie schien die selbe Taktik zu verfolgen und sich von Schatten zu Schatten zu hangeln. Aber es war auch nicht weiter schlimm, dass ich die restliche Strecke allein war, denn so konnte ich die gelegentlichen kleinen Schatten nutzen, um “oben ohne” mein triefend nasses T-Shirt auszulüften. Und ich hätte vorher nicht gedacht, dass ich das mal sagen würde, aber es tat so unendlich gut, halb nackt im Schatten zu stehen! Jeder einzelne kleine Windzug war in diesen Momenten eine wahre Wohltat.

Im Hochsommer durch die bunten Getreidefelder Frankreichs. Wundervoll!
Der Weg ging immer wieder am Gestrüpp des Bahndamms entlang. Allerdings spendete dieses nur selten brauchbaren Schatten.

Da aber bei so einem Wetter auch meine Füße langsam durchweichten, beschloss ich an Ort und Stelle, endlich meine Sandalen einzuweihen, die ich auf diesem Jakobsweg noch gar nicht getragen hatte. Auch die weitere Strecke sah immerhin nach ebenem und trockenem Feldweg, weshalb es sich auch in Sandalen gut laufen lassen sollte. Wieder vollständig eingekleidet und Mal wieder mit Musik auf den Ohren ausgestattet begab ich mich wieder auf den Weg, während am Himmel tatsächlich die ersten Wölkchen des Tages aufzogen. Es war zwar immer noch unerträglich warm, aber zumindest hatte man nun alle paar Minuten die Chance auf einen kleinen Wolkenschatten.
Die wenigen Wolken und der Blick über die Felder brachten mich allerdings auch zu der Realisierung, dass ich bereits seit drei Wochen keinen Regen mehr erlebt habe. Und wie die Felder aussahen, sie auch nicht. Der Boden war knochentrocken und von so tiefen Trockenrissen durchzogen, dass es mich ernsthaft wunderte, wie hier überhaupt noch so knackig grünes Gemüse wachsen konnte.

So langweilig so blanke Felder auf Dauer auch waren – Wolken machten immerhin das Wetter erträglicher.
Frankreichs Gemüsefelder versetzten mich immer wieder ins Staunen. Wie konnte bei dieser Trockenheit nur so viel wachsen?
Kurz vor Ende der Etappe bekam ich zumindest eine Antwort auf meine Gemüse-Frage, als am Horizont ein schwerer Regenschauer vorbeizog. Ich bekam selbstverständlich nichts von diesem Wetterumschwung ab und quälte mich weiterhin mit der mich umgebenden Dürre.

Nach gefühlten Ewigkeiten des Nichts konnte ich hinter den Hügeln endlich die kleine Siedlung Baudement entdecken. Mein heutiges Ziel. Ich hatte es fast geschafft. Vorbei an einem bunten Drachen, der sich in einer Stromleitung verfangen hatte, legte ich den letzten Kilometer entlang der Felder zurück, ehe ich in den verhältnismäßig grünen und dicht bewachsenen Ort kam. Das Haus der Familie, bei der ich heute übernachten würde, war schnell gefunden und auch Carla war schon vor Ort und wusch fleißig ihre Wäsche. Nach einer herzlichen Begrüßung durfte ich auch bald unter die Dusche schlüpfen und obwohl es in direkter Nachbarschaft einen Fluss mit Bademöglichkeit gab, war ich nach der Dusche einfach zu müde, um mich nochmal auf den Weg zu machen. Die Hitze und der Tag hatten mich anscheinend so erschöpft, dass ich beim Abendessen (obwohl ich Vegetarierin bin) die fleischhaltige Lasagne mitgegessen habe. Es gab außer einem grünen Salat nämlich keine Alternative, aber mein Körper hatte die Kalorien dringend nötig. Also Augen zu und durch – für die Gesundheit.

Hinter den Feldern konnte man bereits die Dächer der kleinen Ortschaft Baudement sehen.
Ein einsamer Drache, für immer gefangen in den Auswüchsen der modernen Zivilisation… oder so ähnlich.
Heute durfte ich im ehemaligen Kinderzimmer der Gastfamilie schlafen. Die Zimmergestaltung war etwas alternativ. Zeitgleich war ich aber auch zu geschafft, um das Kletterer-Zimmer angemessen zu würdigen.

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