36. Etappe: Baudement – Méry-sur-Seine
Gelaufen: 12,7 km (Gesamt: 723,6 km)
Die heutige Etappe war kurz und ereignislos. Aber das war auch in Ordnung. Schließlich hatte ich diese kürzeren Etappen als eine Art Pausenetappen eingeplant. Letzte Nacht bin ich zusammen mit Carla bei einer sehr netten Gastfamilie untergekommen, die mir zum Glück auch meine heutige Unterkunft telefonisch abgeklärt hat (es war wieder ein klassischer Fall von “meine Mails und WhatsApp-Nachrichten werden ignoriert”). Sie wohnten in einem der berüchtigten Ikea Häuser die man selbst zusammenbauen konnte, doch das Ergebnis wirkte erstaunlich schön und solide. Doch die Familie legte immer wieder Eigenheiten an den Tag die mich staunen ließen. Und zeitweise war ich gar nicht sicher, ob es wirklich der kulturelle Unterschied zwischen Deutschland und Frankreich war oder ob diese Familie auch für französische Verhältnisse etwas speziell war. Dass gestern nach dem Abendessen und vor dem Nachtisch eine Käseplatte aufgetischt wurde, war für mich zwar ungewohnt aber nicht schockierend. Doch das heutige Frühstück sollte das noch um einiges toppen. Da ich mir einen Kaffee gewünscht habe wurde ich zunächst gefragt ob ich einen großen oder kleinen haben wollte. Natürlich bestellte ich mir einen großen. Dabei dachte ich an die großen Kaffeebecher die wir auch bei uns in Deutschland haben. Was ich allerdings nicht erwartet habe war, dass mir eine große Müsli-Schüssel randvoll mit Kaffee gefüllt wurde. Kaffee aus einer Schüssel, das war eine Premiere für mich. Zum Essen befanden sich auf dem Tisch Baguette, Honig, Marmeladen und Butter. Was man auf dem Tisch allerdings nicht fand waren Teller. Und nach anfänglicher Verunsicherung realisierte ich, dass diese auch nicht mehr folgen würden. So hatte jeder seine Schüssel Kaffee in der einen Hand ein Stück beschmiertes Baguette in der anderen Hand und mümmelte vor sich hin. Ich wollte mit einem einfachen Butterbrot starten und realisierte dabei dass die Butter gesalzen war. Gesalzene Butter zu Marmelade und Honig? Das erschien selbst mir etwas abenteuerlich. Ich schätze: andere Länder, andere Sitten.
Der heutige Weg führte mich primär an einem Kanal entlang, dem Ancien Canal de la Haute Seine. Und die erste Hälfte des Weges war auch nicht der offizielle Jakobsweg, aber da sich die Unterkunft bereits abseits des Jakobsweges befunden hatte, wäre der direkte Rückweg zur eigentlichen Route nur ein Umweg gewesen. So folgte ich einfach der Wegbeschreibung die mir die Gastmutter mit auf den Weg gegeben hatte. Der bereits erwähnte Kanal wird heute nicht mehr aktiv genutzt oder befahren, weshalb er in erster Linie ein umfangreiches Biotop darstellt. Beim Wandern durch dieses Idyll realisierte ich, dass der Kanal voller Leben steckte. Während sich etliche Fische unter der Wasseroberfläche tummelten, schwirrten über dem Wasser die buntesten Insekten umher und Vögeln nisteten im hohen Gras am Ufer. Der Weg am Kanal war eigentlich richtig angenehm, hätte sich nicht schon am frühen Morgen wieder eine unerträgliche Hitze über das Land gelegt. Lediglich der Gedanke daran, dass ich heute nicht so viele Kilometer laufen musste, tröstete mich in dieser Situation. Wann immer sich eine Sitzbank im Schatten ergab nutzte ich die Gelegenheit um etwas zu rasten. Immerhin hatte ich es heute nicht eilig. Eine nette Abwechslung an dem sonst kerzengeraden Kanal boten die immer wieder auftauchenden Schleusen. Bis nach Troyes war der Kanal durch unzählige Schleusen unterbrochen, die die unterschiedlichen Wasserstände im Kanal ausgleichen sollten. Sie waren zwar nicht so spektakulär doch in der Eintönigkeit gaben sie einem immer wieder etwas zu gucken. Der Grund, dass hier überhaupt ein historischer Kanal existiert ist der Tatsache geschuldet, dass die Seine auf diesen Kilometern sehr flach und verschlungen ist, sodass man hier den damals gerne genutzten Wasserweg ausbauen musste.
Wenn ich nicht gerade Insekten und andere Tiere beobachtete, mich an den bunten Vogelhäuschen erfreute, die einen Abschnitt der Etappe zierten, oder über Hitze und Mücken fluchte, verbrachte ich heute auch viel Zeit in meinen Gedanken. Ich stellte dabei fest, dass ich mittlerweile jegliches Zeitgefühl verloren hatte und nicht mehr sagen konnte, welche Ereignisse mir vor wie vielen Tagen oder Wochen widerfahren sind. Wie lange war ich eigentlich schon in Frankreich? War es eine Woche? Zwei? Drei? Selbst wenn mein Leben davon abhinge, hätte ich es in dem Moment nicht mehr benennen können. Die Datumsanzeige auf meinem Handy und meine Handschriftlichen Notizen für diesen Blog waren die einzigen dünnen Fäden, an denen mein kaum existentes Zeitgefühl hing.
Um schließlich meine aufkommende Langeweile zu bezwingen und gleichzeitig meinen Blog voranzubringen, kam ich auf die hervorragende Idee, endlich mal die Spracherkennung meines Smartphones einzurichten und eine taugliche Notiz-App zu installieren, damit ich in eben solchen sich ziehenden Episoden die Texte für meine Beiträge bereits offline diktieren konnte. So hatte ich zumindest die Hoffnung, die Zeit effizienter zu nutzen und meinen Verzug schneller aufzuarbeiten. Und immerhin verging die Zeit auch schneller, wenn man beschäftigt war.
Nur wenige äußere Eindrücke lenkten mich gelegentlich von meinem Selbstgespräch mit meinem Handy ab. So erinnerte mich das Knistern einiger Hochspannungsleitungen plötzlich an die Heimat (und das Urberacher Umspannwerk im Sommer) und die immer aggressiver werdenden Mücken ließen mich zwischendurch daran zweifeln, ob ich nicht aus Versehen nach Finnland gelaufen war. Vor allem, als der Weg schließlich auf beiden Seiten an Gewässer grenzte – links der Kanal, rechts die Seine – gingen die Mücken sogar dazu über, mich durch meine Kleidung zu stechen. Überhaupt hatte ich in den letzten Tagen bereits so viele Mückenstiche gesammelt, dass sie schon nicht mehr zählbar waren.
Und ehe ich mich versah, war ich auch schon in meinem Zielort Méry-sur-Seine angekommen. Meine Unterkunft war ein Gästezimmer über einem vietnamesischen Restaurant, das an diesem Tag leider Ruhetag hatte. Und offiziell war dies auch kein Hotel, aber Pilger waren offenbar eine Ausnahme. Vor allem, da an der Fassade des Restaurants eine Jakobsmuschel hing, war klar, dass ich hier Willkommen war. Das Restaurant war zwar geschlossen, doch während ich noch die Jakobsmuschel fotografierte, öffnete sich schon die Tür und ich wurde herein gebeten. Anscheinend hatte man mich schon erwartet.
Da es erst früher Nachmittag war, habe ich mich nach einer kurzen Dusche wieder raus begeben (und war aufgrund der Bullenhitze sofort wieder geschwitzt), um noch ein bisschen den Ort zu erkunden und vielleicht auch eine ruhige Ecke zum Schreiben zu finden. Da die Restaurants im Ort erst abends öffneten, der Geruch beim Vietnamesen mich aber super hungrig gemacht hat, habe ich mir zunächst einige Snacks und ein kühles Bier im lokalen Tante-Emma-Laden mitgenommen. Und dann ging es auf Sightseeing-Tour. Das Rathaus war zwar hübsch, aber nichts besonderes, da ich den Eindruck hatte, dass die Rathäuser aller französischen Ortschaften gleich aussahen. Vielleicht gab es ja irgendwann mal Mengenrabatt. Doch die örtliche Kirche hatte eine kleine Besonderheit: Während mir schon aufgefallen war, dass Jeanne d’Arc hier häufig die Hauptheilige vieler Kirchen war, sind sie Kirchenbauer von Méry-sur-Seine noch einen Schritt weiter gegangen: Sogar das übliche Kreuz auf dem Dach der Kirche wurde durch ein Bildnis der Jeanne d’Arc ersetzt, sodass diese auch aus der Ferne gut sichtbar war.
Als ich schließlich eine schattige Bank am Ufer der Seine gefunden habe, konnte ich mich wieder um Organisatorisches und ums Schreiben kümmern. Meine Unterkunft für den nächsten Tag – mal wieder ein privates Zimmer – war schnell geklärt, obwohl die Dame am Telefon nur französisch sprach. Doch sie war sehr kooperativ und gewillt, sich zu verständigen, sodass wir uns (trotz defekter Dusche, vor der sie mich bereits gewarnt hatte) für morgen 17 Uhr verabredet haben. Auch für die Folgetage inklusive Pausentag in Troyes konnte ich mir übers Internet schon einen Schlafplatz sichern, was mir sehr viel Last von den Schultern nahm. Und dann ging es ans Bloggen. Doch meine geplante Arbeitsphase hielt nicht lange an, denn schon bald kündigten Donner und starker Wind einige dunkle Wolken am Horizont an. Schnell packte ich meine Unterlagen wieder zusammen, kämpfte mich durch die Staubwolken (Trockenheit und Wind waren eine blöde Kombination) und erreichte gerade noch vor dem Sturm die Unterkunft.
Da es in meinem Zimmer unerträglich warm war, verfolgte ich den Sturm bei weit offenem Fenster, denn obwohl ich auf eine Abkühlung gehofft hatte, hatten die Wolken zunächst nur leichten Nieselregen im Gepäck. Doch die Panik und Hektik der Vögel vor meinem Fenster ließen mich hoffen, dass da noch mehr kam. Aber auch eine halbe Stunde später wurde es nicht mehr als leichter Regen, während ich wie schon gestern die schweren Regenschauer nur aus der Ferne am Horizont beobachten durfte. Während es traurig vor sich hin tropfte, war es schließlich spät genug, dass ich mir in der Pizzeria am Ende der Straße mein Abendessen jagen konnte. Dabei fiel mir gleich der nächste französische Ulk auf: Die Pizzen waren in zwei Hauptkategorien unterteilt – entweder mit Tomatensoße (also für uns in Deutschland normal) oder mit Crème fraîche. Natürlich konnte ich zu dieser Blasphemie, für die einen wahrscheinlich jeder Italiener gesteinigt hätte, nicht nein sagen und nahm mir besagte französische Monstrosität mit, die sich im Nachhinein als relativ lecker herausstellte.
So verbrachte ich schließlich den restlichen Abend auf meinem Zimmer, mümmelte Pizza und betrachtete den vorbeiziehenden Sturm, doch so idyllisch blieb es nicht. Während für mich Feierabend angesagt war, kam die vietnamesische Familie im Stockwerk tiefer erst richtig in Fahrt. Anscheinend hatte das Restaurant keinen wirklichen Ruhetag, sondern beherbergte eine Familienfeier mit bestimmt fünf Generationen. Zumindest hörte es sich so an. Was ursprünglich mit etwas Musik begann, ging schnell in krumm und schief gekrächztes Karaoke über und endete schließlich mit fröhlichem Gejohle und beherzten Kriegsschreien. Da es aber nach wie vor einfach nach einer lebhaften und alkoholbedingt fröhlichen Zusammenkunft klang, störte mich der Lärm nicht wirklich. Ich empfand die Geräuschkulisse durchaus als amüsant. Daher konnte ich trotz der Lautstärke mit immer wiederkehrendem Schmunzeln meine erholsame “Ruhe” finden.